Mit 86 Jahren schickte Oma Ihre Schreibmaschine in Rente und ließ sich die Arbeit mit dem Laptop zeigen. Zuvor hatte sie zwei Bücher über Kölns kleine romanische Kirchen und eine DVD über das Altenberger Westfenster veröffentlicht. Ihre Biographie wollte sie nun am Computer schreiben.
Am vergangenen Montag ist meine Oma Irmgard Schnellbächer gestorben. In den letzten Wochen diktierte sie die Rede, die auf ihrer Gedenkfeier gehalten werden soll: „Meine Kindheit und Jugend stand unter zwei Kreuzen. Dem Hakenkreuz und dem Kreuz Jesu Christi.“ 1940 durchschaute sie den weltanschaulichen Wahn und wendete sich von da an nur noch dem christlichen Symbol der Erlösung zu.

Zwischen Weihnachtsgeschäft und Trauer verbringe ich momentan Zeit mit ihrem Nachlass und lese noch einmal ihre Aufzeichnungen.
In der ihr typischen, knappen Art, setzt sie ihre persönliche Erfahrung in den Kontext lokaler und historischer Fakten. Sie schildert, wie die Verbote religiöser Inhalte in der Schule ihren jugendlichen Widerspruchsgeist wecken. Sie liest und vervielfältigt die Briefe des widerständigen Bischofs Graf von Galen und als sie durch eine Nonne von den Konzentrationslagern hört, bricht für sie eine Welt zusammen. Und dennoch bleibt Hitler in ihrer Jugend bis zum Ende des Krieges davon unangetastet ein Held. Wie kann das sein? Oma versucht dieser schwierigen Frage nach zu gehen.

Mir wird beim Lesen klar: Die Menschen lediglich in „Mitläufer“, „Widerständler“ und „Täter“ einzuteilen wird der Realität nicht gerecht. Aus Wissen kann Bewusstsein werden und aus Bewusstsein können Taten folgen. Aber haben wir heute alle die Kraft gerade diesen letzten Schritt konsequent zu gehen?

Mir war die Lektüre ein Weckruf, mich nicht hinter dem „Bewusstsein“ der Probleme unserer Zeit zu verstecken, sondern die Kraft aufzubringen zu handeln. In diesem Sinne möchte ich Ihnen heute ein ganz persönliches Buch empfehlen.

Buchtipp von Philipp Seehausen, Veröffentlicht im General-Anzeiger Bonn vom 14.12.2019