Vor mir steht ein Filmdöschen. Vor seinem letzten Urlaub hat er es in der Buchhandlung liegen lassen. Darin lagen die abgezählten Münzen für die Zeitung, die er jeden Morgen gut gelaunt bei uns abholte. Letzte Woche haben wir ihn beerdigt. Der ganze Stadtteil hat ihn begleitet. Auf dem Friedhof, in der langen Reihe der Abschiednehmenden, sah ich links und rechts die Namen und Daten der Familien des Bonner Nordens. Jeder einzelne Stein erzählte von Leben und alle zusammen erzählen sie die Geschichte unserer Stadt. Mir lief ein Schauer über den Rücken und in den Schmerz über den Verlust mischte sich die Erkenntnis, dass es das ist, was Zusammenleben ausmacht: Man kennt sich, man begleitet sich durchs Leben und jedes Erlebte hat seine Bedeutung und ist Wert erzählt zu werden.
Genau das kann Robert Seethaler: Das Erlebte der Menschen erzählen und jedem Lebenslauf Würde verleihen. Sein neues Buch „Das Feld“ übertrifft alles, was er bislang geschrieben hat.
Der alte Mann auf der Bank stellt sich vor, wie es wäre, wenn jeder Tote die Gelegenheit hätte, über sein Leben zu sprechen. „Er dachte, dass der Mensch vielleicht erst dann endgültig über sein Leben urteilen konnte, wenn er sein Sterben hinter sich gebracht hatte.“
Seethaler lässt nun die Verstorbenen über ihr Leben sprechen. Mit jeder Seite erschließt sich dem Leser das Zusammenleben der kleinen Stadt. Wir lernen den Pfarrer kennen, der eines Tages verrückt wird, den Gemüsehändler, der als Kind mit seinen Eltern nach Deutschland kam, die Blumenfrau, die die Männer still liebten. Wir begleiten sie durch ihre Höhen und Tiefen, wie sie sich liebten, achteten, halfen und verließen.
Das Buch hat mich mit voller Wucht erobert. Es ist ein Buch über das Leben, voller Weisheit. Es wirft die Frage in mir auf, wie ich aus der Zukunft heraus mein jetziges Leben beurteilen würde. Das Filmdöschen vor mir erinnert mich an das Leben eines Menschen, an dem ich ein kleines Stückchen Teil haben durfte. Es macht mir bewusst, dass der Zauber des Lebens in den alltäglichen Begegnungen liegt.

Buchtipp von Philipp Seehausen, Veröffentlicht im General-Anzeiger Bonn vom 2./3. Juni / Journal, Seite 2