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Der Fall Kurilow

Roman

Erschienen am 06.11.2006
8,50 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783442736140
Sprache: Deutsch
Umfang: 190 S.
Format (T/L/B): 1.6 x 18.7 x 11.9 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Ein Zeitbild des revolutionären Petersburg von der Autorin der Bestseller "Suite française" und "Der Ball". Im zaristischen Petersburg der Jahrhundertwende soll der Revolutionär und Anarchist Léon M. den Erziehungsminister des Zaren ermorden - den zynischen, schwerkranken, dekadenten Kurilow. Als Hausarzt verschafft Léon sich Zugang zu seinem Opfer. Doch je näher Léon Kurilow kommt, umso mehr gewinnt der Minister menschliche Züge, und Léon zweifelt am Sinn seiner Mission. Ein ebenso spannendes wie sensibel und atmosphärisch dicht gezeichnetes Psychogramm von Opfer und Täter.

Autorenportrait

Irène Némirovsky wurde 1903 als Tochter eines reichen russischen Bankiers in Kiew geboren und kam während der Oktoberrevolution nach Paris. Dort studierte sie französische Literatur an der Sorbonne. Irène heiratete den weißrussischen Bankier Michel Epstein, bekam zwei Töchter und veröffentlichte ihren Roman "David Golder", der sie schlagartig zum Star der Pariser Literaturszene machte. Viele weitere Veröffentlichungen folgten. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach und die Deutschen auf Paris zumarschierten, floh sie mit ihrem Mann und den Töchtern in die Provinz. Während der deutschen Besetzung erhielt sie als Jüdin Veröffentlichungsverbot. In dieser Zeit arbeitete sie an einem großen Roman über die Okkupation. Am 13. Juli 1942 wurde Irène Némirovsky verhaftet und starb wenige Wochen später in Auschwitz. 2005 entzifferte Némirovskys Tochter Denise Epstein das Manuskript, das als "Suite française" veröffentlicht und zur literarischen Sensation wurde.

Leseprobe

Auf der menschenleeren Terrasse eines Cafés von Nizza hatten sich, angezogen durch die Glut eines roten Kohleöfchens, zwei Männer niedergelassen. Es war ein für diesen Teil der Welt recht frostiger Herbstabend. 'Ein Pariser Himmel.', sagte eine Frau im Vorübergehen und zeigte auf die vom Wind gejagten gelben Wolken. Gleich darauf fing es an zu regnen, und die leere Straße, in der noch keine Lichter brannten, wurde noch dunkler; stellenweise tropfte das Wasser durch die vollgesogene Markise, die über dem Café ausgespannt war. Die beiden Männer, Léon M. und der andere, der nach ihm hereingetreten war und ihn seither verstohlen ansah - offenbar suchte er sich zu erinnern, woher er ihn kannte -, beugten sich beide mit der gleichen Bewegung zu dem brennenden Öfchen hinunter. Aus dem Inneren des Cafés drang ein Gewirr von Stimmen und Rufen heraus; das Klicken der Billardkugeln, das Scheppern der Tabletts auf den Holztischen, das Klappern der Schachfiguren auf den Brettern überdeckte zeitweilig das dünne, blecherne Schmettern eines kleinen Orchesters. Léon M. hob den Kopf und zog den grauen Wollschal, den er um den Hals trug, enger; der ihm gegenübersitzende Mann sagte halblaut: 'Marcel Legrand?' In diesem Augenblick gingen an der Straße, in den Schaufenstern und auf den Terrassen der Cafés die elektrischen Lampen an. Von der plötzlichen Helligkeit überrascht, wandte Léon M. kurz die Augen ab. Der Mann wiederholte: 'Marcel Legrand?' Vermutlich durch einen zu starken Stromstoß trübten sich plötzlich die Glühbirnen; eine Sekunde lang flackerte das Licht wie eine Kerzenflamme im Freien; dann schien es sich wieder zu beleben, grell beleuchtete es Léon M.s Gesicht, seine hängenden Schultern, seine knochigen Hände mit den zarten Gelenken. 'Hatten Sie nicht mit dem Fall Kurilow zu tun, damals, 1903?' '1903?' wiederholte M. langsam. Er neigte den Kopf zur Seite und pfiff leise, mit dem matten und ironischen Ausdruck eines fröstelnden alten Vogels, vor sich hin. Der Mann, der ihm gegenübersaß, war etwa fünfundsechzig Jahre alt und hatte ein graues, müdes Gesicht; infolge eines nervösen Ticks zuckte er mit der Oberlippe, ruckweise hob sich der dicke, einst gelbe, jetzt weißgewordene Schnurrbart und enthüllte einen blassen, zu einer unruhigen, bitteren Grimasse verzogenen Mund. Seine lebhaften Augen mit dem durchdringenden, mißtrauischen Blick leuchteten jäh auf und wandten sich fast sofort wieder ab. M. sagte schließlich mit einem Schulterzucken: 'Nichts zu machen. Ich erkenne Sie nicht wieder. Ich habe mittlerweile ein schlechtes Gedächtnis.' 'Erinnern Sie sich nicht an den Polizisten, der damals mit der Bewachung Kurilows beauftragt war? Derjenige, der Sie eines Nachts im Kaukasus beschattet hat?' 'Ohne Erfolg. Ich erinnere mich jetzt', sagte M. Er rieb sich sanft die von der Hitze eingeschlafenen Hände. Er war ein Mann um die fünfzig, der älter und krank wirkte. Er hatte einen schmalen Brustkorb, ein düsteres, ironisches Gesicht, einen eigenartigen, schönen Mund, schlechte Zähne, über der Stirn eine ergrauende Strähne. Seine tief in den Höhlen liegenden Augen leuchteten in düsterem Feuer. Er murmelte: 'Zigarette?' 'Wohnen Sie in Nizza, Monsieur Legrand?' 'Ja.' 'Von den Geschäften zurückgezogen, wenn ich mir den Ausdruck erlauben darf?' 'Sie dürfen.' M. atmete, ohne zu inhalieren, den Rauch der angezündeten Zigarette ein, sah zu, wie sie sich zwischen seinen Fingern verzehrte, warf sie auf den Boden und zertrat sie gründlich mit dem Absatz. 'Es ist lange her', sagte er schließlich mit einem unmerklichen Lächeln, 'sehr lange, seit sich das alles zugetragen hat.' 'Ja. Ich war es, der mit der Untersuchung Ihres Falls beauftragt war, nach Ihrer Verhaftung, nach dem Attentat.' 'Ach ja?' murmelte M. gleichgültig. 'Ich habe nie Ihren wirklichen Namen in Erfahrung bringen können. Kein einziger unserer Spitzel kannte Sie, weder in Rußland noch im Ausland. Tun Sie mir den Gefallen, jetzt, wo es keine Bedeutung mehr hat! Sagen Sie mir, Leseprobe